interessantes Interview zum Thema welche Potential Russland noch hat für einen langen Krieg, Wladislaw Inosemzew war Mitglied/Berater der Modernisierungskommission unter ex-Präsident Medwedew.
Herr Inosemzew, hat die russische Kriegswirtschaft an Schwung verloren, etwa aufgrund sinkender Haushaltseinnahmen oder einer Überhitzung der Rüstungsindustrie?
Ich würde eher die Kreml-Politik als Ursache dafür sehen, statt dieser Faktoren. In den Jahren 2022 und 2023 haben die Behörden den Ausnahmecharakter der Kriegssituation erkannt und den Druck auf die Wirtschaft vorübergehend gelockert: Sie haben Parallelimporte erlaubt, Steuererleichterungen eingeführt und ein Moratorium für Insolvenzen. Dies ermöglichte es der Wirtschaft, sich an die neuen Bedingungen anzupassen.
Ab 2024 änderte sich dieser Kurs: Der Kreml begann, die Lockerungen zurückzunehmen, Steuern zu erhöhen und Vergünstigungen abzuschaffen. Die Wirtschaft, die sich an die Maßnahmen der Kriegszeit gewöhnt hatte, verlor an Dynamik. Und der Versuch, zum „normalen“ Regierungsmodus zurückzukehren und diese Maßnahmen zu reduzieren, führte zu einem Abschwung.
Wie zeigt sich, dass es für Russland immer schwieriger wird, den Krieg zu finanzieren? In welchen Bereichen ist dies besonders deutlich?
Der Staat zahlt weniger und ist unentschlossener. Trotz der Verluste und des Bedarfs an neuen Soldaten kürzen die Regionen seit Anfang des Jahres die Prämien für einen Vertragsabschluss, und die Gehälter der Soldaten wurden seit 2022 nicht mehr erhöht. Regionale Programme werden deutlich gekürzt.
Im realen Sektor sind die Probleme unterschiedlich verteilt: Die Rohstoffbranchen, etwa Kohle und Holz, stehen aufgrund des Rückgangs der Binnennachfrage und der Exporte am Rande einer Krise. Das Bauwesen und die Metallurgie verlangsamen ihr Wachstum aufgrund der Kürzung staatlicher Investitionen. Die auf den Binnenmarkt ausgerichteten Konsumgüterbranchen bleiben hingegen vorerst relativ stabil.
Der Haushalt häuft Schulden gegenüber Lieferanten und russischen Regionen an. Von Januar bis September 2025 beliefen sich die Öl- und Gaseinnahmen auf rund 67 Milliarden Euro. Das ist ein Minus von 20,6 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Militärausgaben entsprechen rund 150 Prozent dieser Einnahmen. Im Jahr 2023 waren es 96 Prozent, in den Jahren 2006 bis 2013 rund 29 Prozent.
Was ist die Ursache für die gesunkenen Einnahmen?
Der Hauptgrund für den Rückgang der Einnahmen sind eher die gesunkenen Ölpreise und regelmäßigen Angriffe auf Terminals im Schwarzen Meer und in der Ostsee und nicht die Sanktionen, die den Export nur indirekt einschränken. Nach aktuellen Prognosen werden die Gesamtexporte von Öl und Ölprodukten im Jahr 2025 nur um rund zwei Millionen Tonnen unter denen von 2024 liegen.
Die Behörden könnten das Defizit durch die Ausgabe von Staatsanleihen ausgleichen, anstatt bei den Ausgaben zu sparen. Dies würde dazu beitragen, den wirtschaftlichen Abschwung einzudämmen.
Wie steht es um die russische Industrie?
Die russische Wirtschaft verzeichnet zum ersten Mal seit langer Zeit einen Rückgang der industriellen Aktivität. Nach den „Notfall-Stimuli“ während der ersten Kriegsjahre sind die Behörden nun zu Sparmaßnahmen übergegangen: Sie kürzen Ausgaben, erhöhen Steuern und verstärken die Kontrolle über die Wirtschaft. Dabei versuchen sie, den Haushalt auszugleichen, indem sie das Schuldenwachstum begrenzen und umfangreiche Kreditaufnahmen vermeiden.
Heute machen die Militärausgaben etwa 7 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts bei einem Haushaltsdefizit von etwa 2 Prozent aus. Zum Vergleich: Im zweiten Weltkrieg lagen diese Zahlen bei den USA bei 30 bzw. 25 Prozent. Das zeigt, dass Russland noch immer nicht zu einer vollständigen Mobilmachungswirtschaft übergegangen ist.
Der Kreml ist in die Falle seiner eigenen Strategie geraten: Er strebt einen militärischen Sieg an, ohne eine allgemeine Mobilmachung einzuführen oder in den Ausnahmezustand zu gehen. Jegliche Anzeichen einer möglichen Deeskalation würden zu einem Auftrieb am Aktienmarkt führen, Investoren sehen in einem Frieden die Chance für eine Erholung der Wirtschaft. Die Regierung versucht jedoch weiterhin, ihre militärischen Ziele mit begrenzten Ressourcen zu erreichen. Diese Strategie hat sich erschöpft. In den kommenden Jahren dürfte das Land eine Stagnation erleben, die mit der Periode von 2014 bis 2019 vergleichbar ist.
Was steckt hinter dem Rückgang der Löhne in Verteidigungsunternehmen?
In den Jahren 2022 und 2023 waren die gestiegenen Löhne in der Verteidigungsindustrie auf einen starken Anstieg der Aufträge zurückzuführen: Der Staat erhöhte die Ausgaben für die Modernisierung der Militärausrüstung von etwa zwölf bis 13 Milliarden Euro auf fast 53 Milliarden Euro, was eine uneingeschränkte Einstellung von Personal ermöglichte. Nach der Mobilmachung im Jahr 2022 erhielt ein Vertragsarbeiter mehr als 2200 Euro pro Monat. Die Unternehmen waren gezwungen, ähnliche Bedingungen bei der Anwerbung neuer Arbeitskräfte anzubieten.
Ein weiterer Faktor war die massive Abwanderung von Arbeitsmigranten, die zu einem Mangel an gering qualifizierten Arbeitskräften und damit zu Lohnsteigerungen selbst in den Basisbranchen führten. Bis Ende 2023 stabilisierte sich die Lage: Der Durchschnittslohn erreichte etwa 1100 Euro pro Monat und lag damit doppelt so hoch wie 2021.
Seit 2025 ist eine umgekehrte Entwicklung zu beobachten. Die Auftragslage wächst nicht, mit Ausnahme der Produktion von Raketen und Drohnen. Die Gehälter für neue Stellen sind um etwa 10 bis 15 Prozent gesunken, aber es gibt keine Massenentlassungen. Lediglich die Einstellung neuer Mitarbeiter hat sich verlangsamt.
Die Abschwächung der Wirtschaft hat den Arbeitskräftemangel verringert, und die Arbeitgeber nutzen dies aus. Nach Angaben russischer Experten arbeiten die Rüstungsbetriebe weiterhin mit hoher Auslastung. Ein Rückgang ist nur bei zivilen Unternehmen zu spüren, bei denen zum Beispiel die Nachfrage nach Waggons und Baumaschinen sinkt.
Russland repariert zunehmend alte Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, anstatt neue zu produzieren. Ist dies eine vorübergehende Lösung oder ein Zeichen für den strukturellen Niedergang der Industrie?
Dies ist kein neues Phänomen, sondern war bereits seit Beginn des Krieges zu beobachten. Die russische Armee war auf das Ausmaß der Verluste, welche die Truppen in der Ukraine erlitten haben und weiterhin erleiden, völlig unvorbereitet. Sobald dies klar wurde, stellte das Kommando die Lieferung modernster Technik an die Front fast vollständig ein. So kamen beispielsweise weder die Panzer „Armata“ noch die Kampfflugzeuge Su-57 an die Front.
Die Reparatur und Modernisierung von älteren Panzern war und ist die kostengünstigste Möglichkeit, den Bestand an gepanzerten Fahrzeugen aufzufüllen. Daher wird die Armee dies so lange nutzen, wie diese Panzer verfügbar sind. Dies deutet aber auch auf die Unfähigkeit der russischen Industrie hin, moderne Technik in der erforderlichen Menge zu produzieren, und ich würde nicht darauf wetten, dass sich die Situation in naher Zukunft verbessern wird.
Um das sowjetische Produktionsniveau zu erreichen, müsste Russland sich an den sowjetischen Militärausgaben, die damals bei 18 bis 20 Prozent des BIP lagen, orientieren, was heute selbst hypothetisch unmöglich ist. Mit anderen Worten: Ein Krieg dieses Ausmaßes ist nichts, was Russland endlos führen kann.
Wie akut ist der Personalmangel unter Ingenieuren, Fachkräften, Arbeitern? Wird der Faktor Mensch zum neuen Engpass der Kriegswirtschaft?
In den vergangenen Jahrzehnten wurden in Russland fast keine neuen Ingenieure ausgebildet. Zu Beginn des Krieges lag das Durchschnittsalter der Ingenieure und Konstrukteure in der Rüstungsindustrie bei über 55 Jahren. Fast überall wurden seit Kriegsbeginn Versuche unternommen, Rentner, die zuvor in entsprechenden Betrieben beschäftigt waren, wieder in den Dienst zu nehmen.
Auch qualifizierte Arbeitskräfte waren all die Jahre Mangelware, und dieser Mangel hat sich nach 2022 noch verschärft. In Russland gibt es unterschiedliche Schätzungen zum Personalmangel im Verteidigungssektor: von 160.000 bis 400.000 Menschen, aber meiner Meinung nach müssen hier zwei Umstände berücksichtigt werden.
Einerseits ist der Personalmangel zweifellos struktureller Natur: Sowohl in den ersten Kriegsjahren als auch heute ist die Arbeitskraft ungleichmäßig über das Land verteilt und die Mobilität gering. Es ist eine Sache, einem Arbeitnehmer ein für russische Verhältnisse hohes Gehalt anzubieten, aber eine andere, ihm den Umzug und die Lebensbedingungen in einer anderen Region schmackhaft zu machen. Die bürokratische Maschinerie war und ist damit überfordert.
Andererseits ist der Personalmangel in Russland eine sehr bequeme Ausrede, um die Probleme des einen oder anderen Unternehmens zu erklären. Dabei spielen aber auch der Mangel an importierten Bauteilen, der teilweise katastrophale Zustand der Ausrüstung und vieles andere eine Rolle. Ich würde den Arbeitskräftemangel als eine Art Hintergrundphänomen betrachten, das nicht alle und auch nicht die wichtigsten Probleme der Rüstungsindustrie erklärt.
Moskau zeigt dem Westen, dass es zuversichtlich ist, einen „langen Krieg“ führen zu können. Wie realistisch ist diese Aussage?
Russland ist tatsächlich in der Lage, einen langen Krieg zu führen, auch wenn dessen Kosten immer höher werden. Die Verluste werden auf über 220.000 Tote geschätzt, aber untergraben noch nicht die Wirtschaft und führen nicht zu massiver Unzufriedenheit.
Nach 2022 wurde die Armee weitgehend zu einer Söldnerarmee, was es dem Kreml ermöglicht, die Mobilisierung der Bevölkerung zu begrenzen. Der wichtigste Faktor, der den Krieg einschränkt, sind nicht die Ressourcen, sondern die Stimmung in der Gesellschaft, die des sinkenden Lebensstandards und der ständigen Einschränkungen müde ist.
Steuer- und Abgabenerhöhungen, einschließlich der „Entsorgungsabgabe“, Druck auf die Wirtschaft, Internetsperren und andere Einschränkungen zerstören nach und nach die gewohnte soziale Realität. Dies führt zu wachsender Verärgerung und Apathie, obwohl die Behörden so tun, als hätten sie alles unter Kontrolle. Die Menschen erkennen zunehmend, dass Russlands Präsident Wladimir Putin keinen Frieden anstrebt und weiterhin offensichtlich unerfüllbare Forderungen an die Ukraine und den Westen stellt.
Die Stabilität des Regimes hängt nicht von den wirtschaftlichen oder materiellen Ressourcen ab, über die Russland derzeit noch verfügt, sondern davon, wie lange die Gesellschaft bereit ist, sich mit dieser Situation abzufinden.
Wie beurteilen Sie die Reaktion Europas auf den langwierigen Charakter des Krieges? Besteht weiterhin die Bereitschaft, die Ukraine langfristig zu unterstützen?
In Europa macht sich meine Meinung nach zunehmend Ermüdung breit, weniger wegen des Krieges selbst als wegen der ständig steigenden Kosten für die Unterstützung der Ukraine. Die Unterstützung Kiews erfordert immer höhere Ausgaben, obwohl erwartet wurde, dass der Bedarf an Hilfe mit der Umstellung der ukrainischen Wirtschaft auf den Kriegskurs sinken würde.
Vor dem Hintergrund der Erlaubnis für Männer im Alter von 18 bis 22 Jahren, das Land zu verlassen und nach Polen und Deutschland auszuwandern, strömte eine neue Welle junger Ukrainer ins Ausland, was die Skepsis unter den Europäern verstärkt. Es scheint, dass Putin nicht auf einen militärischen Sieg setzt, sondern auf eine Schwächung der Beziehungen zwischen Kiew und dem Westen und eine wachsende Enttäuschung der Europäer über die Politik der Unterstützung der Ukraine.
Ein langwieriger Konflikt ist nicht wegen einer militärischen Konfrontation mit Russland gefährlich, sondern wegen einer endgültigen Verwandlung der Ukraine in einen wirtschaftlichen „Nichtsnutz”, der endlos von Europa finanziert wird.