Glaube da ist mehr Wahrheit drin in den Aussagen als wir uns in Deutschland eingestehen wollen.
Britischer Konfliktforscher: „Fast alle Voraussetzungen für Bürgerkriege in Westeuropa sind erfüllt“
Der Professor am Londoner King’s College beschäftigt sich mit den Bedingungen für Bürgerkriege und bewaffnete Aufstände. Lassen sich die erschreckenden Szenarien noch verhindern? Ein Interview.
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Professor Betz, wenn wir derzeit von Kriegen sprechen, dann von den Konflikten zwischen Israel und dem Iran oder Russland und der Ukraine. Sie halten jedoch einen möglichen Bürgerkrieg für die eigentliche Bedrohung. Warum?
Weil in Westeuropa heute fast alle strukturellen Voraussetzungen für einen Bürgerkrieg erfüllt sind – und zwar in einer Form, wie man sie in der Fachliteratur als geradezu „idealtypisch“ bezeichnen würde. Wir sprechen von Faktoren, die seit Jahrzehnten erforscht sind: tiefe gesellschaftliche Spaltung, ein beschleunigter Statusverlust der einst dominanten Mehrheitsbevölkerung und ein dramatischer Zusammenbruch des Vertrauens in die Institutionen.
Beginnen wir mit der Spaltung. Was ist damit genau gemeint?
Früher wurden politische Debatten an Sachfragen festgemacht – heute bestimmen Identität und Gruppenzugehörigkeit das Denken. Besonders gefährlich ist die „polarisierte Fraktionalisierung“: Man richtet sich nicht nach dem Inhalt, sondern nach der Linie der eigenen „Stammesgemeinschaft“. Das sieht man in ganz Europa, am deutlichsten aber in ethnisch orientierten Parteien. In Großbritannien gibt es mittlerweile eine wachsende muslimische politische Bewegung, die faktisch eine Ein-Themen-Partei ist – mit Fokus auf internationale muslimische Interessen, aktuell vor allem Gaza, während britische Binnenpolitik kaum Beachtung findet. Das ist Ausdruck einer Politik, in der Identität wichtiger ist als alles andere.
Ein zweiter Faktor ist der Statusverlust der Mehrheitsbevölkerung – was heißt das?
In der Forschung spricht man von „Downgrading“: Die ehemals dominante kulturelle und politische Mehrheit verliert in rasantem Tempo ihre Stellung. In mehreren europäischen Ländern wird die einheimische Bevölkerung innerhalb einer Generation zur Minderheit im eigenen Land. Im Vereinigten Königreich rechnet man damit um das Jahr 2060, in anderen Ländern früher oder später. Downgrading bedeutet, dass nicht mehr die Sprache, Werte und politischen Prioritäten dieser (bald ehemaligen) Mehrheit den Ton angeben – genau wie bei historischen Kulturverdrängungen, etwa der keltischen Briten durch angelsächsische Siedler.
„Masseneinwanderung ist kein Projekt der Bevölkerung, sondern der Eliten“
Manche würden sagen: Wenn demokratisch gewählte Regierungen das zulassen, dann ist es doch der Wille der Mehrheit.
Das ist ein Trugschluss. Masseneinwanderung ist kein Projekt der Bevölkerung, sondern der Eliten. In Großbritannien hat es nie eine Wahl gegeben, bei der die Wähler sich bewusst für unbegrenzte Migration entschieden hätten. Offiziell hieß es immer „Kontrolle und Begrenzung“ – real wurde der „Wasserhahn“ voll aufgedreht. Diese Eliten – politische, wirtschaftliche, mediale, akademische – sind post-national geprägt. Für sie sind Nation und Grenzen Anachronismen, und Fortschritt bedeutet, alle Barrieren für den Fluss von Menschen, Kapital und Ideen abzubauen.
Und der Vertrauensverlust?
Vertrauen ist das soziale Kapital einer Gesellschaft. Über Jahrzehnte wurde es systematisch abgebaut – in Politik, Medien, Polizei, Justiz, sogar in Kirche und Medizin. Heute genießen Politiker als Gruppe in vielen Ländern Vertrauen nur noch im einstelligen Prozentbereich. Doch ohne Vertrauen sinkt die Fähigkeit, Konflikte friedlich zu lösen. Gesellschaften können so „sozial bankrott“ gehen – genau wie Unternehmen finanziell bankrottgehen können.
Welchen Anteil haben ökonomische Entwicklungen?
Sehr hohen. Wohlstand, gute Regierungsführung und eine einigermaßen geeinte Elite waren historisch die besten Schutzschilde gegen Bürgerkriege. Doch diese drei Pfeiler sind in der westlichen Welt angeschlagen: Produktivität und Innovation stagnieren seit Jahrzehnten, Bürokratie lähmt den gesamten Apparat. Gleichzeitig wächst die Verschuldung explosionsartig. Deutschland etwa war einst Musterbeispiel für Haushaltsdisziplin, heute werden in kurzer Zeit Hunderte Milliarden bis Billionen Euro aufgenommen. Energie- und Industriepolitik zerstören die Wettbewerbsfähigkeit – in Deutschland greift man nicht mehr auf russische Energiequellen zurück, während man zentrale Exportmärkte wie China verliert. Hinzu kommt: Junge Menschen sind in Sachen Einkommen, beim Wohneigentum, der Familiengründung und Altersvorsorge deutlich schlechter gestellt als ihre Eltern, teils sinkt sogar die Lebenserwartung. Das durchbricht das tief verankerte westliche Versprechen, dass es den Kindern materiell besser gehen wird.
Welche gesellschaftlichen Ursachen sehen Sie?
Multikulturalismus und Identitätspolitik haben die gemeinsame Basis zerstört, die eine Demokratie braucht. Früher gab es ein stabiles Wir – heute dominiert ein „Wir gegen die Anderen“-Muster. Verstärkt wird das durch soziale Medien, die isolieren und polarisieren. In Großstädten zeigen sich schon Symptome sogenannter wilder Städte (feral cities): verfallende Infrastruktur, Gebiete ohne effektive Polizeipräsenz oder nur „verhandelte“ Polizeizugriffe, wachsende private Sicherheitsdienste, Mauern und Gitter vor Häusern. Solche Entwicklungen treiben eine ethnisch geprägte Abwanderung – wer kann, zieht dorthin, wo er „seine Leute“ sieht.
Und wer stünde sich in einem möglichen Bürgerkrieg gegenüber?
Zwei Hauptachsen: Erstens Nationalisten gegen Post-Nationale – im Kern eine Revolte der „Regierten“ gegen Eliten, die die Spielregeln zu ihrem Nachteil ändern. Zweitens Einheimische gegen Neuankömmlinge. Der erste Konflikt könnte wie ein lateinamerikanischer „schmutziger Krieg“ aussehen – gezielte Mordanschläge auf Mitglieder der Eliten und Gegenschläge staatlicher oder privater Sicherheitskräfte. Denken Sie an Hubschrauberflüge aufs offene Meer ohne Rückkehr für manche Passagiere. Der zweite wäre großflächiger, mit urbaner Gewalt, wie wir sie in Ansätzen schon kennen.
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Sie sprechen in Ihren Aufsätzen von plötzlichen Kipppunkten.
Ja. In Bosnien hielten 1990 noch 90 Prozent der Menschen ihre Beziehungen zu anderen Ethnien für gut. Zwei Jahre später war Jugoslawien zerbrochen und es folgten Massaker, Folter, Vertreibungen. Die trügerische Ruhe kurz vor dem Sturm nennt man Normalitätsbias – man denkt, weil heute noch alles funktioniert, wird es morgen auch so sein.
Wie hoch ist das Risiko konkret?
Wenn ich mein Bauchgefühl sprechen lasse: hoch, wahrscheinlich innerhalb der nächsten fünf Jahre. Das hat damit zu tun, dass ich keinerlei politische Anzeichen für eine ernsthafte Problemlösung sehe – weder Führungspersönlichkeiten mit dem Willen noch mit der Fähigkeit, den Kurs zu ändern. Wenn wir es statistisch betrachten, stütze ich mich auf die Arbeit der Politikwissenschaftlerin Barbara Walter. Sie hat auf Basis weltweiter Daten errechnet, dass in einem Land, in dem die strukturellen Bedingungen für einen Bürgerkrieg erfüllt sind, die jährliche Eintrittswahrscheinlichkeit bei etwa 4 Prozent liegt. Rechnet man das auf fünf Jahre hoch, ergibt sich eine kumulative Wahrscheinlichkeit von rund 18,5 Prozent. Das heißt: Selbst wenn es im ersten Jahr nicht passiert, bleibt das Risiko in jedem Folgejahr bestehen und summiert sich.
Dazu kommt ein weiterer Faktor aus der Bürgerkriegsliteratur: Bürgerkriege „springen“ oft auf Nachbarländer über. Bricht ein solcher Konflikt in einem europäischen Land aus – nehmen wir Frankreich als Beispiel –, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich die Unruhen auf Nachbarstaaten übertragen. Walter gibt dafür keine feste Prozentzahl, aber wenn man konservativ 50 Prozent annimmt und diese Kettenreaktion auf eine Gruppe von zehn Ländern mit denselben Risikofaktoren überträgt, steigt die Fünfjahreswahrscheinlichkeit im europäischen Kontext leicht auf 60 Prozent oder mehr.
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